Chili Chocolate...oder: Das Leid vor der eigenen Haustür
Dies ist die Geschichte der kleinen Katze ChiliChocolate, die Anfang März in unser Leben trat.
Und es ist eine Geschichte, wie sie jeden Tag zigfach vorkommt ... überall - auch direkt vor
unserer eigenen Haustür.
Ein Katzenkind in Not
Eine Frau hatte sich in einer Rostocker Hunde-facebook-Gruppe gemeldet, weil eine kleine,
offensichtlich kranke Katze seit einigen Wochen unter ihrem Balkon lebte und um Futter bettelte.
Sie erkundigte sich, ob sie das Tier in die Tierklinik bringen könnte, wer dann die Kosten
übernehmen würde, wie sie sich verhalten sollte, usw. ...
Es kamen Ratschläge, der Fall wurde wie so oft im facebook emotional diskutiert, die Mitleidswelle
schwappte hoch ... aber letztendlich geschah nichts. Niemand sah sich die Katze genau an, niemand
untersuchte, warum sie "mit einem Bein nicht richtig auftreten konnte", niemand nahm
sie ins Haus ("Nicht dass sie mir Krankheiten reinschleppt!"), brachte sie zum Tierarzt
("Das kostet bestimmt eine Menge und wer bezahlt das dann?") oder rief auch nur die
Tierrettung an ("Dann kommt sie ja ins Tierheim!"). Sie bekam Futter, immerhin, aber
das war's. Keine Wärme, keine Liebe, keine medizinische Versorgung, obwohl sie sich nur schleppend
bewegen konnte.
Der Fall ging von einer facebook-Gruppe zur nächsten, Hilfsangebote wurden gemacht und versandeten
wieder, viele wollten helfen, am Ende kam jedoch niemand. Und ChiliChocolate litt.
Sollen doch die anderen helfen...
Zur Erinnerung: Wir hatten in diesen Tagen nachts MINUS 18 GRAD, tagsüber immerhin noch minus
8 Grad, es war elend kalt und es pfiff ein eisiger Ostwind. Die Katze kauerte bei dem Wetter
in einem Mauerspalt, bewegte sich nur, wenn es Futter gab und fror erbärmlich.
Schließlich gab es dann doch noch ein Hilfsangebot, der Threat wurde kurz darauf gelöscht und alle
dachten, die Kleine wäre gerettet. Nur um sicher zu gehen, dass sie jetzt wirklich Hilfe bekommen
hatte, fragten wir Anfang der darauffolgenden Woche noch einmal nach ... und mussten erfahren, dass
letztendlich doch NICHTS geschehen war.
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Ihr lest richtig: Hunderte, vielleicht sogar weit mehr Menschen wussten von einer kleinen,
kranken Katze, die bei minus 18 Grad in einem Mauerspalt vor sich hin vegetierte. Zig Leute
hatten sie seit Wochen in ihrem direkten Umfeld gesehen und bemerkt, dass es ihr schlecht ging.
Aber niemanden ging es etwas an!
Wo sind all die Menschen gewesen, die sich selbst als tierlieb bezeichnen? Wo waren die, die sich
Tierschutz auf die Fahne schreiben? Warum gab es in dieser riesengroßen Stadt niemanden, der
selbstlos genug gewesen wäre, sich des Tierchens anzunehmen? Wieso haben alle, die das kranke
Kitten sahen oder von ihm erfahren hatten, weg gesehen, als sie gebraucht wurden?
Wegsehen? Nicht mit uns!
Der Mangel an Einsatzbereitschaft entsetzte uns so sehr, dass wir - obwohl 200 km entfernt -
eine Freundin in Rostock anriefen und noch am selben Tag dorthin schickten, um ein persönliches
Bild von der Situation zu bekommen. Nach ihrem ersten Bericht stand sofort fest, dass wir etwas
unternehmen mussten. Sie besorgte eine Transportbox und Futter, fuhr wieder zu der Katze ...
und hatte die geöffnete Box noch kaum auf den Boden gestellt, als die Kleine schon von sich aus
hinein huschte, sich wohlig schnurrend in die weiche Decke kuschelte und keine Anstalten machte,
ihr neues Wahlheim je wieder zu verlassen. Als hätte sie schon lange auf diesen Augenblick gewartet.
Derweil machten wir uns auf den Weg von Hamburg nach Rostock, um sie von dort abzuholen.
Damit ihr endlich geholfen werden konnte.
Ein grauenvoller Anblick
Das Bild, das sich uns bot, als wir sie genauer ansahen, machte uns sprachlos:
ChiliChocolate war erst ein gutes halbes Jahr alt, klein, völlig abgemagert und voller
Zeckennymphen (wo auch immer sie die in der kalten Jahreszeit aufgelesen hatte). Der Ausspruch,
sie hätte "Probleme mit einer Pfote", wie es anfangs hieß, war maßlos untertrieben - denn
sie hatte rechts vorn noch nicht einmal mehr ein Bein! Es wurde ihr direkt am Körper abgehackt und
nur der zersplitterte Knochenstumpf ragte noch aus dem Fell.
Was für ein Martyrium muss dieses kleine Tierchen durchlebt haben? Wie hat sie diese Verletzung
überhaupt überstanden? Wer hat sie ausgesetzt, ob nur gedankenlos oder nachdem er ihr Leiden
verantwortet hat? Ist diesem Menschen(?) klar, wie sehr das Katzenkind gelitten hat - mehr als
jeder von uns in seinem Leben je leiden wird?
Und warum hat über Wochen niemand den Mut gehabt, zu helfen? EIN EINZIGER MENSCH, der, statt wegzusehen
oder ihr Schicksal lediglich auf facebook zu diskutieren, gehandelt hätte, hätte Chocolates Leiden um
so vieles früher abstellen können, hätte ihr eisig kalte Nächte in Einsamkeit und Angst ersparen, hätte
ihr zu einer medizinischen Versorgung verhelfen können. Ein einziger Mensch, der nicht nur davon
redet, tierlieb zu sein...
Unverdientes Vertrauen
Chocolate dankte uns für ihre Rettung mit ununterbrochenem lauten Schnurren und einer riesigen
Menschenliebe. Sie saß während der gesamten Rückfahrt schmusend auf dem Schoß und ließ sich die
anschließende Erstversorgung ohne Murren gefallen. Anschließend schlief sie - weich und warm
gebettet - fast ohne Unterbrechung tagelang wie tot, um sich von dem Erlebten zu erholen. Aber
dankbar für jede Hand, die ihr dabei zart über das Fell strich.
Ihren ersten Tierarztbesuch meisterte sie einige Tage später vertrauensvoll. Neben der Untersuchung
ihrer Gesamtkonstitution sowie äußerlich des Beinstumpfes, bekam sie Aufbauspritzen gegen ihre
Unterernährung und Behandlungen gegen Endo- und Ektoparasiten. Sie war übersät von winzigen
Zeckennymphen, voller Würmer und Flöhe und psychisch wie physisch immer noch ziemlich am Ende.
Aber sobald sich jemand mit ihr beschäftigte, strahlte sie vor Liebe aus ihren grünen Augen.
In den Tagen danach lag sie wieder wie tot auf ihrer Decke, schlief, fraß und schlief wieder.
Und als sie endlich anfing, sich zu bewegen, bestätigte sich schnell, was wir schon vermutet
hatten: Sie hatte Schmerzen und jede Bewegung war ihr unangenehm. Meistens bewegte sie sich deshalb
gar nicht.
Die Operation
Trotz ihrer Anhänglichkeit Menschen gegenüber, knurrte sie schnell, wenn man sie hoch nahm und
dabei in die Nähe des Stumpfes kam. Egal welches Tier sich ihr näherte, es wurde wütend weggefaucht.
Selbst die kleinen Katzen, die jünger als sie waren und mit ihr die Quarantänestation teilten,
lernten schnell, Chocolate nicht zu nahe zu kommen. Sie nahmen es gelassen ... aber das kleine
Dreibeinchen hatte nichts als Angst davor, wieder leiden zu müssen.
Da wir dank eines negativen Ultraschalls bei einer zweiten Untersuchung relativ sicher waren, dass sie
nicht trächtig war (die Rolligkeit war gerade über ihren Höhepunkt, als wir sie einfingen),
entschieden wir mit den Ärzten der Tierklinik, Chili Chocolate baldmöglichst operieren zu lassen. Am
Dienstag, den 27.03. war es dann so weit: Das kleine, tapfere Katzenkind wurde in Narkose gelegt und
auf die OP vorbereitet.
Im Röntgenbild zeigte sich dann, was wir von Anfang an vermutet hatte: Der Oberarm-Knochen war
nach wenigen Zentimetern abgetrennt und daran anschließend lagen mehrere spitze Knochensplitter
frei im Beinstumpf und pikten mit ihren Enden durch die Haut. Was man von außen nicht sehen konnte:
Alle Knochenenden waren entzündet, so dass die Kleine Höllenqualen gelitten haben muss.
Während der OP wurden die Knochensplitter entfernt, der Restknochen amputiert, das entzündete Gewebe
bereinigt und alles sauber wieder zusammen genäht. Gleichzeitig wurde Chocolate kastriert.
Kleine Schritte in eine bessere Zukunft
Schon am Tag nach der OP fing sie an, sich deutlich besser zu bewegen, als in all der Zeit vorher.
Ihre Fauchattacken anderen Lebewesen gegenüber wurden von Tag zu Tag weniger und nach einer Woche
kletterte sie freiwillig auf den Arm, sobald sich jemand zum Schmusen anbot. Binnen kurzer Zeit begann
sie, sich frei im Haus zu bewegen und mit erstaunlicher Geschicklichkeit auch auf hohe Gegenstände zu
springen. Und auch, wenn andere Tiere wohl niemals mehr ihre besten Freunde werden, konnte sie sich bald
frei von Angst vor neuen Schmerzen zwischen ihnen bewegen und musste sie nicht mehr mit Gefauche von sich
fern halten. Von Tag zu Tag integrierte sie sich ein wenig mehr in das Katze-Hund-Mensch-Rudel ihres
Pflegeheims und baute ihre Vorbehalte gegen andere Vierbeiner langsam ab.
Menschen hingegen liebt ChilicChocolate über alles und für eine Schmuseeinheit wird sie sich auch in
Zukunft notfalls vierteilen lassen. Binnen weniger Tage begriff sie, wo die strategisch besten Punkte
im Haus sind, an denen man einem Zweibeiner "auflauern" und ihn zu einer Kuscheleinheit
nötigen kann. Sie lernte Einrichtungen wie das Klo oder das Bett lieben, auf denen ihre Dosenöffner
(zwangsläufig) längere Zeit stillhalten, so dass sie sie "erobern" und sich an sie anschmiegen
kann. Und sie genießt es, in der Nähe ihrer Menschen zu liegen, falls mal keine streichelnde Hand
Zeit für sie hat - Hauptsache dabei sein.
Ein eigenes Zuhause
Chili Chocolate ist eine entzückende und sehr tapfere kleine Katze, die trotz allem, was sie
erlebt hat, die Hoffnung nie aufgibt und Zweibeinern nach wie vor ihre ganze Liebe entgegen bringt.
Deshalb hat es uns auch nicht gewundert, dass sie sehr schnell jemanden gefunden hat, bei dem sie in
Kürze einziehen darf, wenn ihre Behandlung abgeschlossen ist. Und wo sie den Rest ihres Lebens
Katzen-Prinzessin sein wird. Wir lassen sie mit Freuden ziehen, denn sie hätte kein besseres
Zuhause finden können.
Für alle, die nicht nur darüber reden, sondern wirklich helfen wollen
Uns bleiben die Erinnerungen an Menschen, die viel reden, ohne zu handeln, an ein außergewöhnliches
Katzenkind, an die Dankbarkeit, dass wir ihr helfen konnten, an das Glück über den guten Ausgang
ihres erst so traurigen Schicksals.