kein Bellen, kein Weinen, kein Seufzer
Wenn man an einen Kettenhund denkt, dann sieht man vor dem inneren Auge fast zwangsläufig einen großen, mächtigen,
oft dunklen Hund, der auf den Hinterbeinen stehend am äußersten Ende seiner Kette zerrt, bellend und geifernd, Aggression
im Blick. Und nun schauen Sie sich Melissa an: klein, hell, den Blick gesenkt, vorsichtig, still, bescheiden, sanftmütig,
unterwürfig. Eigentlich unfassbar, aber:
Melissa war ein Kettenhund.
Ihre Bestimmung war das Bewachen. Und ihr Zuhause war eine zerfallene Hundehütte am Ende eines Bauernhofs, versteckt hinter den
Futtercontainern, am Rande eines Feldes. Wenn dort das Getreide wuchs, konnte niemand auf der Welt Melissa mehr sehen. Und auch Melissa
sah niemanden mehr, nicht einmal ihre eigenen Besitzer, die oft tagelang nicht nach der Hündin schauten. Vereinsamt und allein
gelassen fristete sie ihr trauriges Dasein dort lange Jahre. Als Tierschützer sie endlich aus dieser Isolation befreiten und den
dicken Verschluss ihrer Kette öffneten, wollte sie nicht einmal dort weg. Sie hatte ihr gesamtes Leben auf wenigen Quadratmetern
verbracht und nun Angst, diese "Sicherheit" zu verlassen. Sie hing an ihrem einsamen Plätzchen - das einzige, was sie
im Leben kennengelernt hatte.
Gefährlich sei sie, hieß es, man könne sie mit keinem Hund zusammen lassen, sie würde beißen!
Nein! Melissa ist nie in ihrem Leben gefährlich gewesen. Sie ist ein Hund, der nie die Möglichkeit hatte, all das
zu erfahren, was für andere Hunde normal ist. Sie hatte vor ihrem Aufenthalt im Canile nie Kontakt zu Hunden, weiß bis heute
oft nicht, wie sie diese einschätzen soll und deshalb machen sie ihr zeitweilig Angst. Zu einer Einzelgängerin ist sie
darüber geworden, die andere Hunde meidet - das ist wohl wahr. Aber das hat sie sich nicht ausgesucht, so wollte sie nie sein!
Als sie im Canile ankam, vergesellschafteten wir sie mit einem Dalmatinerrüden, der sich ebenfalls den Ruf eines
Einzelgängers erworben hatte. Langsam lernte Melissa, ihre Angst zu überwinden und diesen kauzigen Rüden zu lieben.
Sie hing mit einer Zärtlichkeit an ihm, die rührend war und als er krank wurde, bewachte sie ihn Tag und Nacht auf ihre
zurückhaltende Art. Nach seinem Tod verweigerte sie lange Zeit die Nahrung und wir versuchten, sie mit einem anderen Rüden
zusammen zu bringen, bei dem sie Trost finden konnte. Melissa erduldet das, aber sie straft ihn bis heute mit Distanz und Verachtung.
Ihrer ersten, großen Hundeliebe ist sie bis heute treu - so wie sie ihrem traurig-einsamen Zuhause treu gewesen war.
Melissa ist ein Hund, dem Menschen ganz furchtbar mitgespielt haben. Aber sie ist ein absolut lieber Hund, still, zurückhaltend,
sanftmütig. Sie gehört zu den Unscheinbaren: kein Bellen, kein Weinen, keinen Seufzer wird man je von ihr hören. Sie
verfolgt einen nur mit ihren tiefdunklen Augen. Und wartet. Sie ist einfach da, ohne dass man sie bemerkt. Sie fordert nichts, sie
erträgt alles.
Finden Sie nicht auch, dass Melissa es verdient hat, die letzten Jahre Ihres Lebens ein klein wenig von dem nachholen zu dürfen,
was für andere Hunde normal ist? Liebe? Geborgenheit? Ruhe? Wärme?
Bitte helfen Sie uns, ihr das zu ermöglichen.
8. April 2012
Ostersonntag für Melissa
Heute bekam Melissa ein Geschenk von einer Patin. Ganz behutsam kam sie an der Leine mit nach draußen, schaute dem
Paket vorsichtig entgegen und nahm als erstes zaghaft ein kleines Leckerli aus der Hand. Aber dann gab es Fleisch aus der
Dose ... auch das wurde liebevoll mit der Hand gereicht, weil das Mädel sich nicht traute, aber es schmeckte ihr doch
sichtlich gut!!! Nun bekommt sie jeden Tag ein Döschen, damit sie sieht, es denkt auch jemand an sie!
April 2012:
Melissa hat schon eine Freundin in der Ferne gefunden:
Ina Moll wird sie ab sofort nicht nur mit Geld sondern
auch ab und zu mit einem Paket versorgen.
Vielen Dank dafür. Melissa wird es zu schätzen wissen.
Melissa hat sich auf die Reise nach Allmannshofen gemacht, zu ihrer ersten eigenen Familie.
Dort darf nun auch sie endlich erfahren, wie schön es ist, geliebt zu werden.
Vermittelt im Juni 2012