Eine traurige Geschichte
Razvan ist ein alter und recht häufiger rumänischer Name, der so viel wie 'der Glückliche' bedeutet. Und Glück
hatte Razvan, der Besitzer dieses Namens, gerade mehr, als so viele seiner Leidensgenossen. Denn in Rumänien tobt zur Zeit
ein unbarmherzig kalter und schneereicher Winter, so heftig, wie ihn das Land schon lange nicht mehr erlebt hat. Es gab bereits
viele Opfer unter den Menschen und noch viel mehr unter den freilebenden Hunden des Landes - Razvan wäre fast eines von ihnen
geworden. Wenn er nicht einen Schutzengel gehabt hätte ...
Dieser Schutzengel entdeckte den großen, alten Rüden vor Monaten das erste Mal, als er sich völlig ausgehungert
und unglücklich in der Nähe eines Supermarkts herumdrückte. Wo er herkam und ob er schon lange als Straßenhund
gelebt hatte, oder erst vor einiger Zeit wegen seines Alters ausgesetzt woren war, wusste niemand.
Der höfliche Kerl war sich fast zu anständig, um Futter zu betteln, aber hätte er es nicht getan, so wäre er
wohl verhungert. Der eine oder andere warf ihm dann auch einen Brocken zu und Razvan bewachte dafür treu aber gentlemanlike
zurückhaltend den Eingang des Supermarkts. Eines Tages kurz nach seinem Auftauchen, entdeckte ihn Kirsten, eine überzeugte
Tierschützerin. Sie verliebte sich sofort in den schönen Blick des sanften Hundes und von diesem Tag an ging es Razvan
relativ gut: Er bekam täglich von ihr zu fressen, wurde von den Wächtern beschützt, die den Supermarkt beaufsichtigten
und den großen Kerl ebenfalls in ihr Herz geschlossen hatten. Selbst die Supermarktbesucher mochten Razvan und so lebte er
einige Monate fast glücklich und relativ unbeschwert vor dem Eingang des Ladens.
Aber dann kam der Winter und schnell wurde klar, dass Razvan ein Alter erreicht hat, in dem er nicht mehr mit solch extremen
Witterungen umgehen kann. Die Temperaturen fielen nachts auf minus 25 Grad Celsius und Razvan ging es sichtlich schlecht in der
Eiseskkälte. Er lag zitternd auf der Eingangsmatte des Marktes und fror erbärmlich. Kirsten bemühte sich sehr um ihn.
Sie bat u.a. die Geschäftsführung, für den Hund eine Hütte vor dem Laden aufbauen zu dürfen, aber so weit
ging die Tierliebe der Bukarester nun auch wieder nicht. Sie verboten alles, was Razvans Leben ein wenig erleichtert hätte.
Eines Tages, als Kirsten zum Füttern kam, war Razvan nicht mehr da. Sie suchte ihn verzweifelt und machte sich Vowürfe, weil
sie nicht früher reagiert und ihn dort weggeholt hatte. Aber Razvan blieb verschwunden. Es dauerte Tage, bis sie ihn fand. Nach
einer Nacht, in der die Temperaturen tiefer als sonst gefallen waren, entdeckte sie ihn bei einem ihrer Suchgänge in der Nähe
des Geschäfts: Eingerollt wie ein schlafender Wolf lag er zugeschneit in einer Ecke. Erst dachte sie, er sei tot, denn er bewegte
sich überhaupt nicht mehr und es war keine Atmung zu erkennen. Dann, nachdem sie mehrmals seinen Namen gerufen hatte, öffnete
er langsam und müde die Augen und sah sie an. Es war der Blick eines Hundes, dem die Kraft zu Kämpfen ausgegangen war und
der aufgegeben hatte. Razvan war bereit zu sterben.
Kirsten schoss dieser Blick direkt ins Herz. Sie wollte ihn in den Arm nehmen und wärmen, aber er schrie auf und wehrte sich gegen
sie. Da sie dachte, dass er vielleicht angefahren worden war, holte sie einen befreuneten Hundefänger zur Hilfe, aber auch der
konnte den Hund nicht fangen. Immer wieder schrie Razvan vor Schmerzen auf und versuchte mühsam, sich zu entfernen - etwas, was er
noch nie getan hatte, denn er mag Kirsten sehr und freute sich, wenn er sie sonst sah. Schließlich schoss der Hundefänger
Razvan mit einem Betäubungsgewehr, lud ihn gemeinsam mit Kirsten in sein Auto ein.
Eine Untersuchung durch den Tierarzt brachte keine Verletzungen ans Tageslicht, aber der alte Hund war so stark unterkühlt, dass es
ihn fast hatte erstarren lassen. Das verursachte ihm fürchterliche Schmerzen und er schrie grausam, sobald er sich bewegte oder er
auch nur angefasst wurde. Deshalb hatte er sich gewehrt und versucht, zu fliehen. Nachdem er medizinisch versorgt war, wurde er in
warme Decken gewickelt und zu Kirsten gebracht. Sie richtete auf dem Grundstück einen Zwinger für ihn her, in dem sie eine
Hundehütte dicht mit viel frischem Heu ausstopfte. Eine weitere Hütte mit Decken steht ihm ebenfalls zur Verfügung.
Razvan wurde noch schlafend in sein Heubett gelegt und wachte erst einige Zeit später wieder auf. Er war stark verunsichert, aber
ruhig und sah Kirsten nur mit seinen unnachahmlichen Augen an. Als er ein wenig zu Kräften gekommen war und gefressen hatte,
buddelte er wie ein wilder eine große Kuhle ins Heu, rollte sich dort zusammen, seufzte tief und schlief die nächsten
24 Stunden durchgehend. Endlich halbwegs im Warmen und vor allem in Sicherheit. Sein letzter Blick in Kirstens Richtung war pure
Dankbarkeit.
Razvan ist nun seit einigen Tagen in seinem neuen Domizil und erholt sich langsam aber sicher. Er ist ein unglaublich lieber und
sanfter Rüde, immer gewillt, dem Menschen zu gefallen und alles richtig zu machen. Wenn er sich freut (und das ist jedes Mal der
Fall, wenn Menschen zu ihm kommen), tobt er mit verblüffender Energie durch den Schnee, rollt und wälzt sich vor
Vergnügen in der weißen Pracht und hüpft wie ein Wilder um seine Gönner herum. Dann setzt er sich unaufgefordert
vor den Menschen hin, voller leicht unterwürfiger Aufmerksamkeit und wartet, wie es weitergeht. Es ist ihm sehr wichtig, angenommen
und gemocht zu werden. Aber Razvan ist auch ein mutiger und kluger Hund, geschult durch ein hartes Leben, der selbst in Situationen, die
ihn verunsichern, die Ruhe behält und nachdenkend abwartet, bis er begreift, was das zu bedeuten hat.
Das heißt aber nicht, dass er nicht weiß, was er will. Razvan kann durchaus deutlich werden, wenn ihm etwas nicht
gefällt. Das bezieht sich aber derzeit ausschließlich auf andere Hunde. Ob er während seines Straßenhund-Daseins
schlechte Erfahrungen mit seinen Artgenossen gemacht hat oder früher vielleicht an der Kette hing und dadurch wenig Kontakt zu
ihnen hatte, lässt sich für uns nicht abschätzen. Aber sobald ihm ein anderer Hund zu nahe kommt, sagt er für alle
verständlich knurrend: "Bitte lass mich in Ruhe!" Er greift nicht an und selbst, wenn sein Gegenüber alle Warnungen
in den Wind schlägt und ihm auf den Pelz rückt, macht er nichts als einen kurzen Ausfall, und gnappst einmal warnend zu.
Dann zieht er sich wieder zurück und überlässt dem anderen, seine Konsequenzen zu ziehen und weg zu gehen. Sicherlich
würde Razvan sich verteidigen, wenn er ernsthaft angegriffen würde. Aber er ist kein Raufer oder Beißer, er möchte
nur seinen Frieden und sagt das in der Hundesprache sauber und deutlich.
Umso weniger Abstand braucht er dagegen zu Menschen Er liebt es, gestreichelt zu werden und findet es wunderschön, ruhig in
der Nähe sein zu dürfen. Er hat Vertrauen genug, um alles mit sich machen zu lassen. Als Kirsten ihm das erste Mal ein
Halsband anzog und ihn an die Leine nahm, schaute er sie etwas verständnislos fragend an, weil er damit offensichtlich nichts
anfangen konnte. Aber er widersetzte sich nicht sondern versuchte vertrauensvoll zu erraten, was nun schon wieder von ihm verlangt
wurde. Und dann machte er einfach mit. Er wird ab sofort bei einem professionellen Hundetrainer in die Schule gehen, der ihm die
Grundbegriffe des Familienhunde-Daseins beibringt und nochmal eine Einschätzung von Razvans Charakter vornehmen wird, wenn er
ihn besser kennt. Aber schon nach der ersten Begegnung bestätigte er Kirstens Eindruck, den sie über all die Monate gewonnen
hatte: Razvan ist ein lieber, sanfter Rüde, der nichts als gefallen möchte und immer versucht, alles richtig zu machen.
Gesundheitlich scheint es Razvan noch relativ gut zu gehen. Abgesehen von seiner altersbedingt schwindenden Kraft fällt bei ihm nur
ein rechtes Auge mit grauem Star auf, das ihn aber nicht behindert. Und er hat im Laufe seines Lebens die Vorderzähne
eingebüßt. Sie sehen abgebrochen aus und wurden ihm vermutlich (durch einen Unfall oder mit Absicht) ausgeschlagen.
Weitere Beschwerden konnte der Tierarzt bei einer ersten Untersuchung nicht feststellen
Im Moment lebt der stattliche Kerl glücklich in seiner warmen Heuhütte (die er übrigens der Hütte mit den Decken
ganz klar vorzieht), aber leider kann er dort nicht bleiben. Es gibt noch so viel mehr Notfälle in Bukarests Straßen,
dass für Razvan nur zwei Wege bleiben: Entweder er findet baldmöglichst ein Zuhause bei Menschen, die ihn so lieben und
annehmen, wie er ist. Oder er muss zurück auf die Straße. Dort wird einer der nächsten Kälteeinbrüche aber
mit Sicherheit sein Tod sein. Um ihm dieses Schicksal zu ersparen, suchen wir für Razvan Menschen, die ihn für die letzte
Zeit seines Lebens aufnehmen und ihn im Warmen und in der Nähe seiner geliebten Zweibeiner alt werden lassen. Er würde
sich über ein 'eigenes' Grundstück freuen, denn er ist es gewöhnt, draußen zu sein und auch, wenn er die
Annehmlichkeiten eines warmen Hauses mit Sicherheit genießen wird, sobald er sich dran gewöhnt hat (vermutlich war er noch
nie in einem Gebäude), wird er es trotzdem mögen, zwischendurch auch mal nach draußen gehen zu dürfen.
Razvan möchte gern einen Haushalt ohne anderen Hund, aber wenn es sich um eine verträgliche Hündin mit sauberem
Sozialverhalten handelt, besteht auch die Möglichkeit, dass er sich an sie gewöhnt, wenn es ihm wieder besser geht und er
nicht mehr so viel Distanz zu seinen Artgenossen braucht. Allerdings sollten das nur erfahrene Menschen versuchen. Er kommt klasse
mit Jugendlichen aus und liebt es sehr, mit ihnen herumzutollen. Kleinere Kinder werden im Laufe der nächsten Zeit noch
'getestet', ebenso wie sein Umgang mit Katzen.
Razvan hat am 10. März eine Möglichkeit, nach Deutschland zu kommen. Wenn er kein Zuhause findet, wird er wieder zurück
auf die Straße müssen. Aber alle, die ihn mittlerweile kennen, wissen, dass dieser wundervolle Rüde dann aufgeben
wird - er hat gerade erst am Glück geschnuppert und wird es nicht lange verkraften, wieder weg zu müssen. Wir glauben
aber daran, dass das Schicksal nicht seine schützende Hand über ihn gehalten hat, um ihn jetzt im Stich zu lassen - genauso
wenig wie Sie. Bitte helfen Sie uns, ihm eine Zukunft zu geben.
24. März 2012
Razvan geht es sehr gut. Er macht täglich kleine Fortschritte.
Er lässt mich jetzt seinen Bauch kraulen und das Allerneuste - ich darf ihn bürsten!!
Er ist weiterhin noch recht vorsichtig mit Fremden - doch wenn ich da bin, fühlt er sich sicher.
An der Leine Laufen wird auch geübt - noch hat er Angst aus dem Gartentor zu gehen. Doch wir arbeiten
fleißig - und mit vielen Würstchen ... Ein paar Schritte haben wir schon geschafft.
Wir lassen ihm Zeit.
12. Juni 2012
Ein neues Leben
Razvan hat in der Zwischenzeit rasante Fortschritte gemacht. Er hat gelernt, dass Menschen es gut mit ihm meinen und liebt sie und
ihre Streicheleinheiten mittlerweile sehr. Er fordert Kirsten zum Spielen auf und hat begriffen, wozu Spielzeug da ist. Beim Spiel
ist er fröhlich und ausgelassen wie ein kleines Kind.
Anderen Hunden gegenüber werden seine ursprüngliche Angst und sein Argwohn von Tag zu Tag besser. Die Hunde von Kirsten
auf seiner Pflegestelle machen ihm überhaupt keine Probleme mehr. Er kann sogar nah mit ihnen zusammen liegen und fühlt
sich in der Geborgenheit sichtlich wohl. Selbst Katzen stellen kein Problem mehr für ihn dar - mit allen Fellnasen kommt er
auf seine leicht distanzierte Art gut aus.
Außerdem kann Razvan mittlerweile perfekt an der Leine laufen, er kommt sofort, wenn man ihn ruft, kann Auto fahren und er
hat sogar schon die ersten Erfahrungen mit dem Leben in einem Haus gemacht.
Ganz großer Dank gilt hier Kirsten und ihrem Trainer Catalin, die in millimeterkleinen Schritten mit Razvan das
"Gehen" in einem normalen Leben geübt haben. Der Erfolg ist deutlich sichtbar und macht alle Beteiligten
unendlich glücklich. Nicht mehr lange und der liebenswerte Kerl wird in ein Flugzeug steigen und in seine neue Heimat
fliegen können, wo er schon sehnsüchtig erwartet wird. Sein neues Leben wartet schon auf ihn ...
Razvan ist zum Eidgenossen geworden und lebt nun in der Schweiz am schönen Thunersee.
Alles Gute, Großer!
Vermittelt im Juli 2012